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WM Porträts | Salvatore Schillaci – „Toto“ lässt ein ganzes Land träumen

25. Mai 2018 | Spotlight | BY Marius Merck

Die italienische Nationalmannschaft galt im Sommer 1990 bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land als einer der großen Favoriten. Die Serie A galt zur damaligen Zeit als die mit Abstand beste Liga der Welt, die Teams dominierten nach Belieben die europäischen Wettbewerbe. Im Turnier selbst wurde die „Squadra Azzurra“ ihrem Favoritenstatus gerecht und stieß fast bis ins Endspiel vor. Die Mannschaft wurde allerdings von einem Spieler getragen, welchen vorher keiner so richtig auf der Rechnung hatte: Salvatore „Toto“ Schillaci.

 

Klassischer Spätzünder

Der Stürmer wurde am 1. Dezember 1964 in Palermo geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen in eben jener Stadt auf. Schillaci erlernte das Fußballspielen auf der Straße, in den von Wohnblöcken durchzogenen Siedlungen gab es sonst keine Möglichkeiten, um seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Der Sizilianer beendete nicht einmal seine schulische Laufbahn, statt vor seinen Büchern zu sitzen, schoss er lieber Tore für den Amateurverein Amat Palermo, wo er für jeden Treffer lediglich etwas als weniger als zwei Euro erhielt.

Um sich durch den Fußball einer dauerhaften Lebensunterhalt zu sichern, setzte er alles auf eine Karte und schloss sich im Jahr 1982 dem FC Messina an, ebenfalls in Sizilien gelegen, jedoch nur in der Serie C beheimatet. In der Mitte der 1980er Jahre gelang mit dem Verein der Aufstieg in die Serie B, Schillaci machte während dieser Phase jedoch kaum sportlich auf sich aufmerksam. Dies sollte sich erst durch die Ankunft des legendären Trainer Zdenek Zeman ändern: „Toto“ schoss in der Saison 1988/89 unter dem Tschechen 23 Treffer in der zweiten italienischen Liga, weshalb auch größere Klubs auf den 1,75m großen Stürmer aufmerksam wurden.

Mit erst 24 Jahren gelang ihm der Schritt in die Serie A – und er ging dieses Abenteuer für eine Ablöse von etwas mehr als drei Millionen Euro gleich bei einem kaum denkbar größeren Klub an: Juventus Turin! Für Messina hatte er in sieben Jahren in 219 Spielen 61 Treffer erzielt – die ziemlich durchschnittliche Quote wurde vor allem durch seine grandiose letzte Saison bei dem Klub aufgewertet.

 

Im Vorfeld: Kaum Chancen auf einen Einsatz

Im ersten Jahr bei der „Alten Dame“ gewann Schillaci gleich die Coppa Italia und den UEFA Cup. Mit 15 Treffern legte „Toto“ auch gleich ein starkes Debüt-Jahr in der höchsten italienischen Spielklasse hin. In der Torschützenliste der Serie A 1989/90 waren lediglich drei Spieler erfolgreicher: Marco Van Basten, Roberto Baggio und Diego Maradona – bei weitem nicht solche unbeschriebenen Blätter wie der Angreifer.

Dennoch gelang es ihm, sich auf diese Weise für die Landesauswahl zu empfehlen. Am 31. März 1990 debütierte er für die Azzurri als Starter bei einem 1:0 Auswärtserfolg im St. Jakob-Park zu Basel gegen die Schweiz. Bis zur Endrunde sollte allerdings kein weiterer Einsatz mehr hinzukommen. Schillaci schaffte dennoch den Sprung in der 22-Mann-Kader von Trainer Azeglio Vicini. Große Hoffnungen auf Einsätze dürfte sich Schillaci allerdings kaum gemacht haben: „Wunderkind“ Roberto Baggio (Fiorentina), Andrea Carnevale (AS Rom), Aldo Serena (Inter) und vor allem dem großartigen Duo von Sampdoria Genua bestehend aus Gianluca Vialli und dem heutigen Nationaltrainer Roberto Mancini wurden allesamt größere Chancen bescheingt. „Toto“ ging mehr oder weniger als sechster Angreifer in das Turnier im eigenen Land.

 

Mandatory Credit: Billly Stickland/Allsport

 

DER Star des Turniers

Italien traf in der Vorrunde auf Österreich, die Vereinigten Staaten von Amerika (zum damaligen Zeitpunkt zum ersten Mal seit 40 Jahren ein Teilnehmer) sowie die Tschechoslowakei. Zum Auftakt ging es im Olympiastadion in Rom gegen die von Josef Hickersberger trainierten Österreicher, welche mit jungen Spielern wie Toni Polster oder Andreas Herzog durchaus nicht zu unterschätzen waren. Dementsprechend zäh verlief der Auftakt, in welchem wie erwartet Vialli und Carnevale für die Gastgeber starteten. Als es nach 75 Minuten immer noch 0:0 stand und das Publikum langsam unruhig wurde, brachte Vicini „Toto“ in die Partie.

Es dauerte nur vier Minuten bis der Stürmer das Vertrauen seines Trainers zurückzahlen konnte. Einer Flanke von Vialli verwertete Schillaci schulbuchmäßig per Kopf – es sollte kein weiterer Treffer in der Partie fallen. Einen Platz in der ersten Elf brachte dies Schillaci dennoch (noch) nicht ein. In dem zweiten Spiel der Vorrunde gegen den Underdog USA zeigte der Gastgeber erneut eine relativ uninspirierte Partie, der Held des Auftaktspiels kam abermals von der Bank, dieses Mal immerhin schon nach 52 Minuten, der Treffer des Tages von Giuseppe Giannini war dieses Mal bereits nach elf Miuten gefallen. Trotzdem musste sich nach dem zweiten durchschnittlichen Auftritt der Italiener etwas ändern.

Vicino bot Schillaci in dem dritten und letzten Vorrundenspiel gegen die Geheimfavoriten der Tschechoslowakei um die Topspieler Miroslav Kadlec und Tomas Skuhravy zum ersten Mal in dem Turnier von Beginn auf – und „Toto“ sollte es seinem Coach danken! Nach nur neun Minuten war der Stürmer wieder per Kopf zur Stelle, Baggio sorgte dann mit einem herrlichen Sololauf für die Entscheidung. Damit hatte der Juve-Spieler seinen Platz in der ersten Elf an vorderster Front mit Baggio gesichert. Die Italiener zogen mit einer „weißen Weste“ durch eine maximale Punkte-Ausbeute ohne Gegentreffer in die KO-Phase ein.

(Photo by DANIEL GARCIA/AFP/Getty Images)

Im Achtelfinale mussten die Gastgeber gegen die knochenharte Truppe aus Uruguay um Superstar Enzo Francescoli ran. Über eine Stunde stand das beinharte Mauerwerk der Südamerikaner, dann brach – natürlich – Schillaci den Bann. War er bei seinen ersten beiden Treffern im Turnier noch per Kopf erfolgreich, traf er dieses Mal per traumhaften Schuss aus Distanz. Der eingewechselte Serena entschied die Begegnung kurz vor Schluss. Der Gastgeber hatte das Achtelfinale erreicht – und die Euphorie um den Shootingstar und das Team nahm zu.

Der Gegner im Viertelfinale war das Überraschungsteam aus Irland mit der Trainerlegende Jack Charlton auf der Bank, für die spielerisch nicht zwingend überragenden Azzurri war dies bis dahin der unangenehmste Gegner. Dementsprechend verlief auch das KO-Spiel – die Iren mauerten und die Gastgeber suchten nach Lösungen. Logischerweise hatte einmal mehr „Toto“ die besagte Lösung parat und entschied mit dem Treffer des Tages in der 38. Minute die Partie. Der Stürmer nutzte einen eklatanten Fehler von Keeper Pat Bonner, während der italienische Torwart Walter Zenga einmal mehr ohne Gegentor blieb.

(Photo by Allsport/Getty Images)

Das Finale war zum Greifen nahe – und das Halbfinale bot eigentlich eine machbare Aufgabe: Argentinien. Die Südamerikaner waren zwar der Titelverteidiger, hatten sich bei der Endrunde jedoch keineswegs in einer starken Verfassung präsentiert. Die Gruppenphase wurde lediglich als bester Dritter überstanden, ansonsten konnte man getrost nicht Superstar Diego Maradona, sondern Torhüter und „Elferkiller“ Sergio Goycochea als den bisher besten Spieler des Teams  bei dieser Endrunde bezeichnen.

Der argentinische Keeper konnte jedoch auch nichts ausrichten, als der Angreifer mit der Rückennummer 19 in der 17. Minute zu seinem fünften Turniertreffer abstaubte. Doch die Argentinier kamen im Hexenkessel von Neapel, in welchem Maradona die Beziehung zu „seinem“ (lautstark pfeifenden) Publikum bei der Nationalhymne mit lautstarken Mutmaßungen über den Berufsstand der Mütter der anwesenden Fans vollkommen ruinierte, durch Torjäger Claudio Caniggia zurück. Der „Thriller“ fand auch nach 120 Minuten keine Entscheidung, weswegen der Sieger im Elfmeterschießen ermittelt werden musste.

Dort zeigte Goycochea einmal mehr seine Qualitäten in diesem Modus und parierte die Versuche von Serena und Roberto Donadoni, der amtierende Weltmeister verdarb damit den Traum vom Titel im eigene Land. Zum Unmut der Fans wurde letzte Elfmeter der Argentinier natürlich ausgerechnet von Maradona verwandelt, welcher Neapel während der kommenden Saison in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen sollte.

Die enttäuschten Italiener mussten ins Spiel um Platz 3 gegen England, wo Vicini ohne Abstriche weiterhin seine Stammelf einsetzte. Schillaci rundete das Turnier mit seinem sechsten Treffer in seinem siebten Spiel adäquat ab. Dabei verwandelte er in der 86. Minute einen Elfmeter, welcher seiner Mannschaft letztendlich „Bronze“ sicherte. Zuvor hatte er schon die Führung durch Baggio vorbereitet.

Schillaci wurde mit sechs Treffen vor dem Tschechoslowaken Skhuravy (fünf Tore) sowie Lothar Matthäus, Gary Lineker, Míchel und Roger Milla (allesamt vier Tore) Torschützenkönig der Weltmeisterschaft. Daneben wurde er auch zum besten Spieler des Turniers gewählt, wobei man hier auch einwenden kann, dass der deutsche Weltmeister-Kapitän Lothar Matthäus diese Auszeichnung verdient gehabt hätte.

(Photo by DANIEL GARCIA/AFP/Getty Images)

 

Der weitere Verlauf der Karriere

Am Ende des Kalenderjahres 1990 sicherte er sich hinter Matthäus – dieses Mal in umgekehrten Rollen – und vor Andreas Brehme den zweiten Platz bei Wahl zum Weltfußballer des Jahres. Danach ging es nach seinem steilen Aufstieg aber auch wieder rapide in die andere Richtung. Schillaci stand im Alter von 25 Jahren nach der Weltmeisterschaft 1990 bei insgesamt acht Länderspielen und sechs Treffern. Seine Statistiken im Nationalteam weisen am heutigen Tag 16 Spiele und sieben Tore auf, seine letzter Einsatz für die „Squadra Azzurra“ datiert vom 25. September 1991 – etwas mehr als ein Jahr später nach seinem glorreichen Sommer war „Toto“ bereits keine Option mehr für den damals dreifachen Weltmeister.

Dies resultierte natürlich auch von seinem Nachlassen auf Klub-Ebene: Für Juventus erzielte er in den nächsten beiden Saison lediglich fünf bzw. sechs Treffer und verlor dadurch logischerweise seinen Stammplatz bei dem italienischen Spitzenverein. Vor allem die Ankunft von Baggio, seinem kongenialer Partner bei der WM 1990, reduzierte seine Einsatzzeiten. Im Sommer 1992 wechselte der Sizilianer dann für etwas mehr als eine Millionen Euro zu Inter Mailand. Doch auch bei den „Nerazzurri“ erreichte Schillaci nicht mehr sein altes Niveau. In insgesamt 36 Einsätzen traf er für den Verein zwölf Mal, schon nach zwei Jahren zog der Stürmer erneut weiter. Immerhin gewann er mit dem Verein in der Saison 1993/94 seinen zweiten UEFA Cup-Titel.

Mit gerade einmal 29 Jahren wechselte der Italiener daraufhin nach Japan zu Jubilo Iwata. Dort spielte er unter anderem mit Carlos Dunga und Gerald Vanenburg zusammen, in der damals noch nicht dermaßen kompetitiven Liga fand Schillaci außerdem seinen Torriecher wieder. Für Jubilo erzielte er in 78 Spielen 56 Treffer, gleich in seiner Debütsaison 1994/95 wurde er mit 24 Buden Torschützenkönig der J-League. Seine Karriere sollte er dennoch nicht mehr lange fortsetzen, mit nur 32 Jahren hängte er im Jahr 1997 seine Stiefel an den Nagel.

War Schillaci als nur ein „One-Hit-Wonder“? Dem ist klar zu widersprechen: Ein Spieler, welcher erst in einem etwas fortgeschrittenen Alter nach jahrelanger Tätigkeit in der Zweit- und Drittklassigkeit sich doch noch in solche Sphären spielt und trainiert, ist alles andere als solches, sondern viel eher zu bewundern. Auch bei Juventus lieferte er in seiner ersten Saison starke Leistungen ab, welche im Sommer 1990 ihren absoluten Höhepunkt erreichten. Dieses Turnier katapultierte den Stürmer ins weltweite Rampenlicht – und schien ihn gerade deswegen auch in gewisser Weise zu hemmen.

Ein Aufstieg in einer solchen Geschwindigkeit ist nicht einfach zu verarbeiten, weder in Turin noch bei Inter konnte er den gigantischen Erwartungen im Anschluss gerecht werden. In Japan zeigte Schillaci dann noch einmal seine herausragenden Qualitäten vor dem gegnerischen Gehäuse. Sein relativ frühes Ende der Karriere unterstreicht in diesem Kontext eine gewisse Ermüdung – und vielleicht auch eine ebenso gewisse Unzufriedenheit mit sich selbst.

Denn ein Fakt bleibt trotzdem, dass der Angreifer nie wieder das Niveau seines legendären Turniers erreichen sollte – in einem magischen Sommer, in dem „Toto“ eine ganze Nation träumen ließ und sich damit für immer einen Status als WM-Legende sichern sollte.

(Photo by Paolo Bruno/Getty Images)

 

 

 

 

 

 

 

Marius Merck

Eine Autogrammstunde von Fritz Walter weckte die Leidenschaft für diese Sportart, die über eine (“herausragende”) Amateurkarriere bis zur Gründung von 90PLUS führte. Bei seinem erklärten Ziel, endlich ein “Erfolgsfan” zu werden, weiter erfolglos.


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