Spotlight

„Er hat einfach die Nase voll!“ – Das Panel zum Messi-Beben beim FC Barcelona

28. August 2020 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Panel | Nach mehr als 700 Spielen und über 600 Toren für den FC Barcelona möchte Lionel Messi den Verein verlassen.

Wie konnte es soweit kommen? Wird Lionel Messi wirklich wechseln? Wo könnte er hin und wie geht es bei Barcelona weiter? Zusammen mit Alex Truica, freier Journalist und Chef-Redakteur von Barcawelt, versuchen die 90PLUS-Redakteure Christoph Albers (hier findet ihr seine exzellente Aufarbeitung, wie es soweit kommen konnte) und Simon Lüttel die entscheidenden Fragen zu klären.

(Photo by LLUIS GENE/AFP via Getty Images)

90PLUS: Am Dienstagabend überschlugen sich die Meldungen: Wie habt ihr die Nachrichten zu Messis Entschluss aufgenommen und was waren eure ersten Gedanken dazu?

Simon Lüttel: Im ersten Moment war ich defintiv überrascht. Der FC Barcelona und Messi wirkten auf mich zuvor lange Zeit eine untrennbare Einheit. Ein Abgang war zuvor nie ein konkretes Thema und einen Gedanken, Lionel Messi im Trikot eines anderen Vereins zu sehen, gab es nicht, weil es für mich lange Zeit einfach unvorstellbar war.

Christoph Albers: Ich war im ersten Moment gleichermaßen überrascht und schockiert. Trotz allem, hätte ich mir das auf die Art und Weise nicht vorstellen können, auch weil es ein großes Risiko für alle Beteiligten darstellt, natürlich auch in Hinblick auf Messis Lebenswerk beim FC Barcelona. Dennoch konnte ich den Entschluss nachvollziehen und auch gewisse Sympathie dafür aufbringen, wegen der Entwicklung des Vereins in den letzten Jahren.

Alex Truica: Ich würde sagen: ungläubig. Man will sowas ja immer erst gar nicht wahrhaben, hofft dann zudem natürlich darauf, dass es sich um Falschmeldungen handelt (was in Spanien ja sowieso nicht selten der Fall ist). Doch die ersten Berichtete verfestigten sich dann ja stündlich. Es ist auch bis heute noch irgendwie surreal.

Seit mehr als 20 Jahren ist Messi für den FC Barcelona eine Institution – wie konnte es soweit kommen? (Kurzfassung)

SL: Ich gehe davon aus, dass die Abschiedsgedanken das Resultat der Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit des FC Barcelona und nicht kurzfristig entstanden sind. Messis Einfluss im Klub ist riesig und in den letzten Jahren ist viel schief gelaufen. Ich bin mir sicher, dass Lionel Messi noch immer eine tiefe Bindung zum Klub hat, aber verständlicherweise Zweifel an einer weiteren Zusammenarbeit in der Spätphase seiner Karriere hegt.

CA: Die Gründe sind sicherlich vielfältig und die Entscheidung ein Resultat der Entwicklungen vieler Jahre. Vieles läuft allerdings beim Noch-Präsidenten Josep Maria Bartomeu zusammen, zu dem Lionel Messi ein angespanntes Verhältnis pflegen soll. Die Entlassung Ernesto Valverdes, inklusive des Konflikts mit Eric Abidal, „Barça-Gate“, die verfehlte Transferpolitik der letzten Jahre, offenbar auch insbesondere die Personalie Neymar, die schlechte sportliche Entwicklung, vor allem das schlechte Abschneiden in der Champions League, und natürlich auch zuletzt der Umgang mit seinem Freund Luis Suarez, sind nur einige der möglichen Gründe, die man hier anführen könnte. Von den Problemen mit der spanischen Steuerbehörde mal abgesehen.

AT: Er hat einfach die Nase voll. Der ständige Misserfolg der letzten Jahre (gerade auf CL-Ebene), die Kämpfe innerhalb des Vereins, die stümperhafte Kaderzusammensetzung, die institutionellen Querelen auf Vorstands- und Managementebene, dazu das schmachvolle 2:8 gegen Bayern haben ihn endgültig zermürbt. Er denkt und sieht, dass er in dieser Mannschaft keinen Erfolg haben und auf absehbare Zeit in der Endphase seiner Karriere keine Titel gewinnen kann.

(Photo by David Ramos/Getty Images)

Nimmt man Messi seinen Wechselwunsch übel?

SL: Das würde mich aufgrund seiner Verdienste für den FC Barcelona in den vergangenen 20 Jahren doch sehr wundern. In den Spielen gegen den BVB habe ich in der vergangenen Saison mitbekommen, wie sehr die Barca-Fans ihren Kapitän verehren. Auf mich wirkt es eher so, als hätte Messi bei Barca einen eigentlich unantastbaren Legendenstatus.

CA: Jüngsten Umfragen einer in Barcelona-ansässigen Sportzeitung zufolge, ist es nur eine Minderheit der Barça-Fans, die ihm seinen Wechselwunsch übelnimmt. Auch mein Eindruck ist der, dass die meisten Fans Verständnis für seine Entscheidung aufbringen können und die Schuld eher bei Bartomeu und der übrigen Vereinsführung sucht, die in den letzten Jahren sicherlich an vielen Stellen versagt hat. Auch ich persönlich kann seine Entscheidung absolut nachvollziehen, auch wenn der Fan und der Romantiker in mir natürlich darauf hoffen, dass er trotzdem bleibt und seine Karriere im Camp Nou beendet.

AT: Ja und Nein. Er sollte für keinen anderen Verein innerhalb Europas spielen (wollen). Aber auf menschlicher Ebene ist es auch irgendwo nachvollziehbar, dass einen Misserfolg und Missmanagement über all die Jahre zermürben und aus dem Verein treiben.

Nach der 2:8 Niederlage gegen den FC Bayern zogen die Barça-Verantwortlichen Konsequenzen und entließen Trainer Quique Setien. War dieses Spiel womöglich auch für Lionel Messi der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hat?

SL: Das 2:8 gegen den FC Bayern war der Tiefpunkt einer jahrelangen Negativentwicklung. Man schied ja auch in der beiden Vorjahren gegen die AS Roma und den FC Liverpool nach richtigen Packungen im Rückspiel aus. Ich kann keine Gedanken lesen, kann mir aber gut vorstellen, dass dieses Spiel Messi in seinen Zweifeln bestätigte.

CA: Das Spiel hatte mit Sicherheit auch einen Einfluss auf seine Entscheidung. Mal abgesehen von emotionalen Faktoren, war es vor allem auch ein klares Zeichen dafür, wie weit der FC Barcelona derzeit von der Weltspitze entfernt ist. Messi mittlerweile auch schon 33 Jahre alt und weiß, dass er nicht mehr allzu viel Zeit hat, um sich den großen Traum vom fünften Champions League Triumph zu erfüllen. Womöglich hat er den Eindruck gewonnen, dass der Umbruch bei Barça zu umfangreich und langwierig werden würde, um dort noch eine realistische Chance zu haben. Zumal das kommende Jahr, mit der Präsidentschaftswahl im März und der schwelenden Ungewissheit, die den Verein bis dahin erfüllen wird, für ihn ein verlorenes Jahr sein könnte. Er hat nicht mehr die Zeit, um auf Barça zu warten.

AT: Absolut. Die Art und Weise hat sicherlich eine wesentliche Rolle gespielt. Es war das Ende einer Ära, das Ende dieser Mannschaft so wie wir sie seit Jahren kennen. Bei einer normalen Niederlage hätte er glaube ich nicht so überreagiert. Doch diese Schmach war so viel mehr als eine normale Niederlage.

(Photo by David Ramos/Getty Images)

Könntet ihr euch ein Szenario vorstellen, in dem Bartomeu den Verein verlässt und Lionel Messi doch beim FC Barcelona bleibt?

SL: Ja. Das wäre jedoch auch das einzige Szenario, bei dem ich mir einen Verbleib vorstellen könnte.

CA: Ausschließen würde ich es nicht, nein. Die jüngsten Berichte aus Barcelonas Sportpresse legen nahe, dass es zu einem solchen Szenario kommen könnte, auch wenn bis dahin noch einiges passieren müsste. Die Stimmung rund um den Verein erscheint explosiv zu sein, was aber trotzdem nichts heißen muss, es wäre nicht das erste Mal, dass Bartomeu eine unangenehme Situation einfach aussitzt. Er ist sich aber sicherlich auch schmerzlich bewusst, dass ein Messi-Abgang seine „Ära“ rückblickend zweifelsohne als Misserfolg dastehen lassen würde.

AT: Menschen ändern manchmal ihre Meinungen, Empfindungen und Gefühle können sich ändern. Man weiß auch nicht, was seine Familie darüber denkt, ob diese ihn womöglich umstimmen kann. Vorstellbar wäre es grundsätzlich, dass er Bartomeus Abgang als neue Chance wahrnimmt. Vielleicht auch, weil Barça ihm verspricht, seinen Kumpel Suárez zu behalten und seinen Kumpel Neymar zu holen. Das wären zwei Schachzüge, die ihn womöglich zum Umdenken bewegen könnten. Denn auch wie Barça mit Luis Suarez bei dessen Ausbootung umgegangen ist, hat Messi schwer getroffen.

Die Klausel, die Messi einen ablösefreien Abgang ermöglichen sollte, scheint nach übereinstimmenden Medienberichten seit dem 10. Juni verstrichen zu sein. Wäre es denkbar, dass Barcelona Messi keine Freigabe erteilt?

SL: Wenn Messi den Verein wirklich unbedingt verlassen will, bin ich mir sicher, dass das auch passieren wird. Sollte Messi die Ausstiegsklausel nicht ziehen können, kann ich mir gut vorstellen, dass Barca dem Verein, für den Messi in der kommenden Saison auflaufen will, in einer möglichen Ablöseverhandlung entgegenkommt.

CA: In diesem Punkt, könnte es durchaus interessant werden. Die Klausel ist zwar offiziell zu diesem Datum ausgelaufen, dennoch könnte argumentiert werden, dass es der eigentliche Sinn dieser Frist war, Messi eine Bedenkzeit nach Saisonende zu geben, um eine Entscheidung treffen zu können. Da diese Saison nun aber deutlich später beendet wurde, könnte wiederum argumentiert werden, dass auch die Klausel angepasst werden müsste, um dem ursprünglichen Zweck zu erfüllen. Das ist Auslegungssache und juristisch alles andere als leicht. Dennoch hoffe ich, dass man es nicht auf einen solchen Rechtsstreit ankommen lassen wird, das wäre ein geradezu tragisches Ende der Ära Messi. Dass es bei einem eskalierenden Konflikt einer Verweigerung der Freigabe ohne sonstige Einigung kommt, halte ich für sehr unwahrscheinlich, da sonst alle Beteiligten ihr Gesicht verlieren würden.

AT: Selbstverständlich. Man sollte nicht vergessen: Pogba will seit Ewigkeiten von ManUtd weg, durfte aber nicht. Letzte Saison wollte Neymar mit aller Macht zu Barça wechseln, doch PSG ließ ihn nicht ziehen. Beide spielen wieder gut und erfolgreich, sind motiviert und fester wie wichtiger Teil ihres Teams. Es kann sich absolut lohnen, einem Schlüsselspieler keine Freigabe zu erteilen.

(Photo by Manu Fernandez / POOL / AFP) (Photo by MANU FERNANDEZ/POOL/AFP via Getty Images)

Messi zu ersetzen ist nahezu unmöglich. Wie würde der FC Barcelona auf dem Transfermarkt reagieren: Einen teuren Nachfolger holen oder vielleicht doch den Kader komplett neu aufbauen?

SL: In diesem Fall halte ich die Umstrukturierung des Kaders für unausweichlich. Ohnehin steht mit Ronald Koeman nun ein neuer Trainer an der Seitenlinie, der eigene Vorstellungen hat. Neben Messi steht auch Luis Suárez vor einem Abgang, die Barca-Verantwortlichen werden sich also ohnehin Gedanken machen müssen. Zudem sind die Fußstapfen von Messi so groß, dass ein direkter Nachfolger fast zwangsläufig enttäuschen würde.

CA: Das ist natürlich schwer zu prognostizieren, da die sportliche Führung neuformiert wurde. Einen direkten Nachfolger zu finden, der auch nur ansatzweise Messi Profil nahekommen würde, ist enorm schwierig. Abgesehen von Neymar und mit Abstrichen Jadon Sancho, fielen mir da nicht allzu viele Kandidaten ein. Daher würde ich vermuten, dass Barça versuchen würde Messi durch mehrere Spieler zu ersetzen. Lautaro Martinez ist da sicherlich ein naheliegender Name, er würde aber eher Suarez ersetzen als Messi. Ansonsten käme natürlich auch eine interne Lösung infrage. Vielleicht wäre es DIE Chance für Philippe Coutinho, um doch noch zum Erfolg zu werden. Ich würde es ihm sehr wünschen.

AT: Das kann man nicht vorhersehen, weil es ja davon abhängt, ob und wie viel Ablöse generiert werden kann. Stand jetzt will der FC Barcelona ja – völlig unabhängig von der Wechselabsicht Messis – den Kader sowieso neu umbauen und viele Stammspieler (Umtiti, Vidal, Rakitic, Suárez…) verkaufen. Der Neuaufbau ist also sowieso bereits geplant. Eine satte Ablöse durch einen Messi-Transfer würde dabei enorm helfen.

Kommen wir zu Messi selbst. Wo steht er am 6. Oktober unter Vertrag?

SL: Ich tippe auf Manchester City. Trotz seiner 33 Jahre traue ich Messi zu, noch einige Jahre auf europäischem Topniveau zu spielen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sowohl Messi, als auch Pep Guardiola von einer Reunion nicht abgeneigt wären. Zudem zählen die Cityzens zu den wenigen Vereinen, welche die finanziellen Mittel hätten, um einen Transfer zu realisieren.

CA: Eine ganz schwierige Frage. Ich hoffe natürlich, dass er dann immer „Blaugrana“ trägt, was ich, angesichts der großen Herausforderungen, die ein Transfer dieser Größenordnung (selbst ohne Ablöse) mit sich bringen würde, auch keinesfalls für ausgeschlossen. Sollte er wechseln, wäre die Anzahl potenzieller Kandidaten aber sehr begrenzt. Manchester City wäre aus meiner Sicht klarer Favorit, nicht zuletzt aufgrund von Pep Guardiola. Doch selbst für City dürfte ein Transfer schwierig werden. Manchester United, Chelsea, PSG und Bayern würde ich ausschließen. Ein Wechsel in die Serie A wäre meine Außenseiter-Wette, einzig und allein aufgrund der möglichen steuerlichen Vorteile, die ihn in Italien erwarten würden.

AT: Ich weiß es nicht. Ich hoffe beim FC Barcelona. Alles andere wäre einfach falsch.

In Barcelona ging es in jüngerer Vergangenheit oftmals chaotisch zu. Was muss passieren, damit es um das Camp Nou wieder ruhiger wird…mit oder ohne Messi?

SL: Ein Rücktritt von Bartomeu und ein Verbleib von Messi könnten in meinen Augen wie Balsam für die Barça-Fanseele wirken.

CA: Der Schüssel, um den Verein wieder etwas beruhigen zu können, ist die Präsidentschaftswahl. Es braucht einen neuen Präsidenten und die damit einhergehende Gewissheit, um überhaupt etwas für die Zukunft ausbauen zu können. Dann braucht Barça aber auf jeden Fall einen langfristigen und auf mehr Nachhaltigkeit ausgerichteten Plan, um einen neuen Zyklus einzuleiten. Doch selbst dann bezweifle ich, dass tatsächlich Ruhe einkehren wird. Das gibt es bei Barça einfach nicht. Durch die demokratische Ausrichtung des Vereins wird immer und überall Politik betrieben und das führt dazu, dass Unruhe und Intrigen an der Tagesordnung sind.

AT: Ein neuer Vorstand und ein neuer Präsident müssen die Geschicke des Klubs leiten, eine neue Ära einläuten. Das wird im Sommer 2021 ja endlich der Fall sein. Dann gibt es endgültig den dringend benötigten Umbruch im Klub.

Alle Neuigkeiten rund um die “Causa Messi” erfahrt ihr hier.

Mehr News und Storys rund um den internationalen Fußball

(Photo by David Ramos/Getty Images)


Ähnliche Artikel