Gerrards Meisterstück – Der Weg zum Rangers-Titel

16. April 2021 | Spotlight | BY Yannick Lassmann

Spotlight | Die Glasgow Rangers bejubelten im März die erste Meisterschaft seit 2011. Architekt des Erfolg ist Steven Gerrard, der sich nach seiner überaus erfolgreichen Spielerkarriere seine ersten Meriten als Trainer verdiente.

Gerrard: Laufbahn als Spieler endet ohne Meisterschaft

Steven Gerrard (40) verbrachte beinahe sein gesamtes Leben in Liverpool. 1998 rückte er in die erste Mannschaft der ruhmreichen Reds. Während der 17 Jahre andauernden Zeit gewann der Mittelfeldspieler zahlreiche Titel. Den Höhepunkt stellte sicherlich der Champions-League-Triumph im Jahre 2005 dar. Damals holte der FC Liverpool im legendären Finale von Istanbul gegen den AC Milan einen 0:3-Rückstand auf und siegte nach Elfmeterschießen. Vergönnt blieb dem torgefährlichen Mittelfeldspieler hingegen trotz zahlreicher Anläufe die Meisterschaft. Besonders nah dran schien er in der Spielzeit 2013/14 gewesen zu sein, als Liverpool lange die Tabelle anführte und letztendlich doch hinter Manchester City – auch weil Gerrard sich im entscheidenden Moment ausrutschte. Ein Jahr konnten sich beide Parteien nicht auf eine Vertragsverlängerung einigen. Gerrard ließ seine Spielerkarriere bei Los Angeles Galaxy austrudeln, ehe er 2017 als Jugendtrainer in die Heimat zurückkehrte.

Einstieg bei den Rangers

Rund eineinhalb Jahre später engagierten ihn die Glasgow Rangers als neuen Cheftrainer. Gerrard, der seinen Vertrauten Michael Beale (40) mitbrachte, fand eine keineswegs ansprechende Situation vor. Die Gers – wie sie in Schottland bezeichnet werden – befanden sich erst seit 2016 wieder in der höchsten Spielklasse, da sie 2012 Insolvenz anmeldeten und einen Neustart aus der vierten Liga antreten mussten. In dieser Phase dominierte der Stadtrivale Celtic die Liga nahezu nach Belieben, woran er auch nach dem Rangers-Wiederaufstieg anknüpfte. Die Gers mussten in den Derbys teils herbe Niederlagen einstecken und auf internationaler Ebene blamierten sie sich im Jahr vor der Gerrard-Ankunft bis auf die Knochen. Der luxemburgische Vertreter FC Progres Niederkorn erwies sich in der Europa-League-Qualifikation als zu stark. Gerrard fand also eine ihm durchaus bekannte Grundstimmung vor. Denn ein Klub mit einem hohen Selbstverständnis blieb über Jahre ohne Titel – wie einst auch der FC Liverpool.

In seinen ersten beiden Spielzeiten litt der junge sowie enorm ehrgeizige Trainer unter dem damaligen meilenweiten Abstand zu Celtic. Immerhin verringerte er die Unterlegenheit. Am 29.12.2019 gewannen die Rangers erstmals seit 2010 beim Erzrivalen (2:1) und zogen sogar an ihm vorbei. Die Fans träumten bereits von der Meisterschaft. Doch anschließend bekam ihr Verein kaum ein Bein mehr auf den Boden. Binnen acht Wochen lagen die Rangers wieder 13 Punkte hinter Celtic. Gerrard kritisierte die Mentalität seiner Mannschaft nach einem unerwarteten Ausscheiden im Pokal: „Ich fühle im Moment Schmerzen, weil ich hier gewinnen will. Bei meinen Spielern habe ich nicht den Eindruck, dass sie das gleiche Gefühl haben.“

Gerrards hohe Ambitionen

Wenig später folgte der coronabedingte Saisonabbruch. Somit stand Gerrard noch ohne Titel da, was in zwei Jahren bislang noch kein Rangers-Trainer überlebte. Die Vereinsführung sprach ihm trotzdem weiter das Vertrauen aus, da die Gers international wieder konkurrenzfähig agierten. Sie schafften den Sprung bis ins Achtelfinale der Europa League, wo Bayer Leverkusen letztlich eine Nummer zu groß war. Gerrard bekam dank der vielversprechenden Ansätze zudem seine anspruchsvollen Forderungen erfüllt. Neben Investitionen in den Kader verlangte er vor allem eine Verbesserung der Infrastruktur. Das modernisierte Trainingsgelände solle den ein oder anderen Spieler, den es womöglich sonst nicht in die im Vergleich eher mäßig attraktive schottische Premiership gezogen hätte. „Es war wichtig, den Spielern so viele Ausreden wie möglich wegzunehmen“, so Gerrard.

Die Mannschaft krempelte er über die Jahre ebenfalls um. Aus seiner Anfangszeit fanden sich nur noch der jüngst seinen Vertrag bis 2024 verlängernde Kapitän James Tavernier (29) sowie der manchmal ziemlich eigenwillige aber durchaus umworbene Angreifer Alfredo Morelos (24) in der Startformation wieder. Die entscheidenden Puzzleteile fügte er der Auswahl im Sommer hinzu. Dabei habe er sowohl auf die Qualität sowie den Charakter geschaut. Ianis Hagi (22) – einer der auffälligsten Akteure der U21-EM 2019 – , Kemar Roofe (28) – ein Angreifer aus Anderlecht oder der aus der Bundesliga bekannte Innenverteidiger Leon Balogun (32) stießen für relativ geringe Ablösesummen zur Mannschaft.

Mit den insgesamt sieben externen Neuzugängen formte er schnell eine funktionierende Einheit. Ein Beobachter berichtete: „Er weiß, wie es ist, in einer Umkleidekabine zu sein und dort Kapitän zu sein. Er weiß, wie man Leute führt und sie zusammmenbringt, wie man die Leute aufrichtet und das Beste aus ihnen rausholt.“ Es gehe sogar soweit, dass die Spieler für ihn „durch Wände laufen“ würden.

Glasgow Rangers Tavernier Morelos

Alfredo Morelos und James Tavernier zählen seit Amtsantritt von Steven Gerrard zu den wichtigsten Stützen. (Photo: Imago/Kirk Rourke)

Gerrard setzt auf offensiven Spielstil

Die Mischung zwischen jungen und älteren Akteuren scheint ebenfalls zu passen. Neben Spielführer Tavernier verlässt Gerrard sich auf den Premier-League-erfahrenen defensiven Mittelfeldspieler Steven Davies (36) und Torhüter Allan McGregor (39). Sie geben der stets im 4-3-3-System auflaufenden Mannschaft den nötigen Halt, um ihren ambitionierten Spielstil durchzuziehen. Dem Trainer gelang es einen flüssigen Ballbesitzfußball mit vielen kurzen Pässen zu etablieren. Zumeist befinden sich sechs Offensivakteure in der Startelf. Dazu sollen auch beide Außenverteidiger mit angreifen. Dies erleichtert das schnelle Gegenpressing, das die Rangers in der laufenden Spielzeit perfektionierten.

Die Spielweise ist mit einem hohen Kraftaufwand verbunden, weshalb in der Vorbereitung tägliche Laufeinheiten auf dem Trainingsplan standen. Innenverteidiger Balogun berichtete in einem Interview mit dem Kicker, dass Gerrard besonders auf Attribute wie Athletik, Dynamik, Aggressivität und Sicherheit am Ball schaue. Dennoch hat er trotz noch eher geringer Erfahrung das gesamte Geschehen im Blick. So installierte er im Verlauf seiner Amtszeit mit Tom Culshaw einen Trainer für Standardsituationen. Die Verpflichtung zahlte sich aus, da die Gers in rund zwei Jahren fast 50 Tore nach ruhenden Bällen erzielten.

Rangers-Saison von Beginn an dominant

Das Spieljahr verlief vom Start weg hervorragend. In den ersten sieben Spielen fuhr der schottische Rekordmeister 19 Punkte – und blieb ohne Gegentreffer, womit er einen neuen Rekord aufstellte. Im Anschluss an das 2:2 bei Hibernian starteten die Rangers eine unheimliche Siegesserie von 15 Begegnungen. Darunter waren auch Siege im Old Firm gegen Celtic. Sowohl auswärts (2:0) als auch im heimischen Ibrox Park (1:0) hatte die Gerrard-Elf die Nase vorne.

Da der Stadtrivale, der sich zuvor die letzten neun Meisterschaften sicherte, auch außerhalb der Derbys schwächelte und zu keiner Phase der Saison an Fahrt aufnahm, wuchs der Vorsprung schnell an. Trainer Neil Lennon (49) trat schließlich entnervt zurück, da er die Verantwortung für den Stillstand in der Entwicklung auf sich nahm. Das Titelrennen war zu diesem Zeitpunkt aber schon längst gelaufen – und am 07.März nach einer Nullnummer der Bhoys bei Dundee United auch offiziell entschieden. Der Vorsprung betrug sechs Spieltage vor Saisonende nämlich schon 20 Punkte.

Glasgow Rangers Celtic

Photo: Imago/Andrew Milligan

Kaderbreite und Einstellung stimmen

Doch auch in Normalform hätte Celtic die Rangers wohl nicht gefährden können. Denn sie sammelten bis dato 89 von 99 möglichen Zählern und blieben ungeschlagen. Der Ansicht von Balogun nach steckt dahinter „akribische Arbeit“ in allen Bereichen. „Nach Unentschieden und davon gab es nur fünf, fühlte es sich in der Kabine wie eine Niederlage an. Nicht weil es so dramatisch war, sondern weil wir uns festgenommen haben, uns das nicht zu erlauben.“ Gerrard bewältigte also die schwierige Aufgabe, die eigene Mentalität an die gesamte Mannschaft weiterzuvermitteln, womit er in der Vorsaison noch so sehr haderte.

Enorm beeindruckend wirkt auch das Torverhältnis von 78:10. Die enorme defensive Stärke, die vor allem auf dem herausragenden Gegenpressing beruht und sich in 24 Zu-Null-Partien ausdrückt, wird beinahe noch vom Angriff überstrahlt. Der extrem offensive Ansatz von Gerrard, den er im europäischen Wettbewerb immer etwas modifiziert, erwies sich als goldrichtig. Der dauerhaft mitstürmende Rechtsverteidiger Tavernier netzte elfmal ein, womit er gemeinsam mit Morelos schon Rangers-Toptorschütze ist. Neuzugang Roofe gelangen zehn Treffer. Dahinter reihe sich Ryan Kent (24), der gemeinsam mit Gerrard aus Liverpool kam und den endgültigen Durchbruch im Profifußball schaffte, mit zehn Toren. Insgesamt vollendeten 16 verschiedene Akteure für die Rangers.

Die Bedeutung der Meisterschaft für Gerrard und die Rangers

Die lang ersehnte Meisterschaft verhinderte aus Rangers-Sicht eine spezielle Demütigung. Celtic hatte die einmalige Gelegenheit, ein ganzes Jahrzehnt als schottische Nummer eins zu fungieren. Stattdessen ergatterten jedoch die Gers ihren 55.Titel, womit sie ihren Vorsprung auf den Erzrivalen auf vier ausbauten. Im gesamten Vereinsumfeld wird Steven Gerrard als entscheidender Mann für den Erfolg betrachtet. Dementsprechend riesig fällt die Verehrung für ihn aus. Sie dürfte schon jetzt mindestens Liverpooler Niveau erreicht haben, was die nicht immer Corona-konformen Feierlichkeiten rund um den Ibrox Park aufzeigten. Umso bitterer, das ausgerechnet in dieser Spielzeit die überaus treuen und leidenschaftlichen Anhänger den Stadien fern bleiben mussten. Gerrard, der genau weiß, wie wichtig Fans für einen Verein sind, schloss hingegen mit seinem eigenen Trauma ab. Im dritten Jahr als Profitrainer feierte er erstmals den Gewinn einer Meisterschaft – und ließ sich sogar zum Kabinen-Diver hinreißen.

Glasgow Rangers Gerrard Titel

Photo: Imago/Jane Barlow

Was bringt die Zukunft für die Rangers ?

Trotz der frühen Entscheidung im Ligabetrieb ist die Saison für die Rangers noch nicht beendet. Das Double scheint in Reichweite. Die größte Hürde auf dem Weg zum Pokalsieg wartet bereits am 17.April im Achtelfinale, wenn der 424.Old Firm steigt. Die Bilanz der vergangenen Jahre im SFA-Cup liest sich alles andere als gut. Letztmals triumphierten die Rangers im Jahr 2009. Doch auch in der Premiership dürfte noch längst in den Energiesparmodus geschaltet werden. Rekorde wie die höchste Punktzahl und die wenigsten Gegentore aller Zeiten sowie ein Spieljahr ohne Niederlage liegen in greifbarer Nähe.

Dennoch dürften Gerrard und sein Team den Blick auch schon auf die nächste Spielzeit richten. Hauptaufgabe wird es sein, die herausragenden Leistungen annähernd zu bestätigen, aber auch den nächsten Schritt in der Entwicklung zu gehen. Die Rangers werden schon zu einem frühen Zeitpunkt der Saison enorm gefordert sein, da sie in der Champions-League-Qualifikation antreten werden. Die erste Teilnahme seit der Saison 2010/11 wird ein großes Ziel darstellen. Sie würde aufzeigen, das die überzeugenden Leistungen in der Europa League – wo zweimal in Folge das Achtelfinale erreicht wurde – keineswegs eine Ausnahme waren, sondern das der große Traditionsverein international nicht nur aufgrund seiner besonderen Anhängerschaft, sondern auch sportlich wieder anerkannt wird.

Wohin führt der Weg von Gerrard ?

Gerrard selbst ist sich der Herausforderung bewusst. Er weiß aber auch, dass er nicht noch zahlreiche Jahre die Glasgow Rangers trainieren wird. Die Endstation seiner Reise dürfte allen Beobachtern klar sein. Der Weg dorthin ist aber noch offen. Womöglich könnte er schon in einem Jahr die Gers verlassen, um sich als Trainer auch in England zu etablieren. Denn in seinen Planungen ist alles auf eine Rückkehr zum FC Liverpool ausgerichtet: „Würde ich gerne eines Tages Trainer von Liverpool sein? Ist das ein Traum? Ja natürlich. Der Klub bedeutet mit alles.“ Mit dem jetzigen Trainer Jürgen Klopp (53) steht er bereits im regelmäßigen Austausch: „Wenn ich ihn anrufe und frage, was er über dies oder das denkt, dann bekomme ich immer eine ehrliche Antwort.“ Vielleicht könnte Gerrard bei erfolgreicher Fortsetzung seiner Trainerarbeit sogar direkt auf Klopp, dessen Vertrag 2024 endet, folgen. Um dann die Meisterschaftsmission mit seinem Herzensverein zu vollenden.

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(Photo: Imago)

Yannick Lassmann

Rafael van der Vaart begeisterte ihn für den HSV. Durchlebte wenig Höhen sowie zahlreiche Tiefen mit seinem Verein und lernte den internationalen Fußball lieben. Dem VAR steht er mit tiefer Abneigung gegenüber. Seit 2021 bei 90Plus.


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