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Marcelo Bielsa: Revolution in Lille

17. Juli 2017 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Die Zeiten, in denen der OSC Lille in Europa sportlich auf sich aufmerksam machen konnte, liegen bereits ein paar Jahre zurück. Im Jahr 2012 konnte man sich mit Spielern wie Kalou, Digne oder Sidibe noch mit dem FC Bayern messen, in der Saison 2011/12 spielte Eden Hazard seine letzte Saison für den Klub aus der Ligue 1. Damals schied man in der Königsklasse bereits in der Gruppenphase aus, Hazard wechselte, die Mannschaft konnte das Niveau nicht halten und driftete etwas in Richtung Mittelmaß ab. In der vergangenen Saison landete Lille auf Platz 11, was die schlechteste Platzierung in den letzten Jahren war.

Im Sommer wurde Marcelo Bielsa als neuer Trainer verpflichtet. Der Argentinier mit dem Spitznamen „el Loco (der Verrückte)“ gilt als Taktikfuchs, aber auch nicht gerade als einfach. Er war in seiner Vergangenheit unter anderem Nationaltrainer der argentinischen und chilenischen Mannschaft, trainierte Bilbao und Marseille.In Lille plant er jetzt die Revolution – mit spannenden Transfers.

Keine langfristigen Engagements

Betrachtet man Bielsas bisherige Trainerstationen, so fällt auf, dass er gerade als Vereinstrainer nie langfristig bei einem Verein engagiert war. 1 1/2 Jahre bei den Newell’s, ebensolange bei Atlas Guadalajara, 8 Monate bei CF America, 1 Jahr bei CA Velos, 3 Monate bei Espanyol Barcelona. Danach wurde er Nationaltrainer Argentiniens, blieb 7 Jahre für den Verband tätig, ehe er eine zweijährige Pause einlegte. Danach trainierte er die Nationalmannschaft von Chile, blieb dort immerhin etwas mehr als drei Jahre im Amt. Nach diesen Erfahrungen und einer Weiterentwicklung seiner Fähigkeiten schloss er sich im Juli 2011 Athletic Bilbao an, die er auf Vordermann brachte. Er verfeinerte den Spielstil, zog einige spannende Spieler aus der Jugend hoch und ließ sehenswerten Fußball spielen. Nach 2 Jahren war das Kapitel Bilbao für ihn allerdings beendet.

 

Nach einer einjährigen Pause schloss er sich Olympique Marseille an, krempelte auch hier einiges um. Auch in Marseille war allerdings früh Schluss, nach nur einer Saison beendete man die Zusammenarbeit. Wieder legte Bielsa eine Pause ein, ehe er seine wohl kürzeste Amtszeit als Trainer erlebte. Am 6.7.2016 wurde er als Coach von Lazio Rom vorgestellt, nur zwei Tage später verließ er den Klub wieder, weil angeblich versprochene Transfers nicht umgesetzt wurden. Ist Bielsa womöglich nicht für den Vereinsfußball gemacht? Warum enden seine Engagements so früh?

(Photo by DENIS CHARLET/AFP/Getty Images)

Ein Grund dafür ist, dass er viele Ideen hat, gute Ansätze zeigt, die Strukturen in den Klubs über den Haufen werfen will. Bielsa hat seine ganz eigenen Vorstellungen und Ideen. Wenn diese nicht schnell genug umgesetzt werden, kann der Trainer launisch werden. Möglicherweise geistern „El Loco“ zu viele Veränderungen durch den Kopf. Während einer Entwicklung hat er bereits die nächste im Sinn. Dass er viel von seinen Spielern verlangt, ist klar. Aber dass er jeweils in der kurzen Zeit bei den jeweiligen Vereinen, abgesehen von Lazio natürlich, einen positiven Einfluss auf zahlreiche Spieler und das Niveau insgesamt hatte, ist auch klar. In Lille lässt man Bielsa in Ruhe arbeiten, hinterfragt offenbar wenig. Vielleicht zahlt sich genau das am Ende aus.

Transfers in Lille

Bielsa zögerte erwartungsgemäß nicht lange, trat schnell mit einem Plan an den Verein heran und hat einige Spieler verpflichten können, die genau in sein Beuteschema passen. Allerdings trennte man sich in Lille auch von Eingien Spielern. So verließen einige Leihspieler den Verein, zudem verlieh man Alexis Araujo, Youssouf Koné, Gabriel und Jean Butez. Die endgültigen Abgänge sind bis zum jetzigen Zeitpunkt Marko Basa, Franck Beria, Baptiste Guillaume und die qualitativ hochwertigen Sebastien Corchia und Soualiho Meite. Bei den Neuverpflichtungen ist ein Muster erkennbar. Die Spieler, die in diesem Sommer nach Lille wechselten sind jung, entwicklungsfähig und formbar. Mit Chahreddine Boukholda (21) und Kouadio-Yves Dabila (20) wurden zwei Spieler aus der B-Mannschaft des AS Monaco verpflichtet, Fode Ballo-Toure (20) kam aus der B-Mannschaft von PSG. Diese Spieler sollen in Lille den nächsten Schritt machen.

(Photo by Gonzalo Arroyo Moreno/Getty Images)

Die Leihe von Stürmer Ezequiel Ponce (20) von der Roma untermauert die Ambitionen. Zudem wurde Nahm Sliti (24) von Red Star FC verpflichtet, ebenso wie Xeka (22, Braga) und Edgar Ie (23, Belenenses). Die Königstransfers für Bielsa waren aber andere. Rechtsverteidiger Kevin Malcuit (25, St.-Etienne) schloss sich für 9 Millionen dem OSC Lille an. Malcuit soll Stammspieler auf der rechten Seite werden und defensiv wie offensiv Akzente setzen. Mit Thiago Mendes vom FC Sao Paulo kam für 9 Millionen Euro ein sehr interessanter Mann. Der 25-jährige soll im defensiven Mittelfeld ein Dreh- und Angelpunkt sein. Er vereint gute Defensivqualitäten wie eine robuste Zweikampfführung mit einem guten Auge und Passspiel, mit dem er gefährliche Angriffe initiieren kann. Er galt als absoluter Wunschspieler Bielsas.

Spannende Talente

Doch das waren noch nicht alle Neuzugänge. Für 10 Millionen Euro konnte man Rechtsaußen Nicolas Pepe (22) aus Angers loseisen. An Pepe waren einige Vereine interessiert, obwohl seine Statistiken nicht beeindruckten. In Angers gelangen ihm in 33 Spielen in der Ligue 1 in der vergangenen Saison 3 Tore und eine Vorlage. Pepe muss noch an seiner Effizienz arbeiten, sich mehr zutrauen. In einem Team mit einer höheren fußballerischen Klasse und einem Trainer wie Bielsa könnte das aber schnell der Fall sein. Für die linke Seite sicherte sich Lille die Dienste von Luiz Araujo (21). Der Brasilianer kam für 10,5 Millionen Euro vom FC Sao Paulo, hatte 7 Scorerpunkte in 26 Spielen auf seinem Konto. Araujo ist technisch versiert, verfügt über eine gute Antrittsschnelligkeit und sucht gerne den direkten Weg zum Tor. Er könnte ein typischer Bielsa-Spieler werden, der neben dem kombinativen Aspekt auch individuell für Highlights sorgt.

(Photo by DENIS CHARLET/AFP/Getty Images)

Doch auch Spieler, die bereits in Lille unter Vertrag standen, könnten unter Bielsa einen entscheidenden Schritt gehen. Der defensive Mittelfeldspieler Ibrahim Amadou (24) könnte durch die Entlastung von Thiago Mendes aufblühen und zu einer wichtigen Figur werden. Auch Fahres Bahlouli im offensiven Mittelfeld, der bereits für Lyon und Monaco spielte, hofft auf seinen endgültigen Durchbruch. Das gilt auch für Anwar El Ghazi, der im Januar aus Amsterdam nach Lille wechselte und in 12 Spielen in der höchsten französischen Spielklasse erst einen Scorerpunkt zusteuern konnte. Der großgewachsene Flügelspieler könnte von einer Änderung des Spielstils ebenso profitieren wie Mittelstürmer Yassine Benzia (22), der sich aber gegen eine große Konkurrenz durchsetzen muss. Zurzeit stehen Bielsa 29 Spieler zur Verfügung, das Durchschnittsalter ist mit 24,5 Jahren gering. Weitere Abgänge – und auch Ergänzungen – sind nicht ausgeschlossen.

Fußballerische Entwicklung

Nachdem die Personalfragen geklärt sind, wird es vor allem darauf ankommen, den OSC Lille fußballerisch auf Vordermann zu bringen. Bielsa lässt gerne in einem 4-2-3-1-System spielen, aber will sich weder festlegen, noch eine Formation klassisch interpretieren. Es müssen bestimmte Aufgabengebiete verteilt werden und der Einsatz aller Spieler muss stimmen. Und zwar beginnend mit dem ersten Training. Wenn der gesamte Kader von Beginn an mitzieht und die Vorgaben von Bielsa erfüllt, kann der OSC Lille eine erfolgreiche Saison spielen. Der Kader jedenfalls gibt einiges her und scheint sehr spannend zu sein, viele Neuzugänge müssen integriert werden.

Doch die große Zahl der Neuverpflichtungen spricht dafür, dass Bielsa seine Wünsche erfüllt wurden, er genau die Spielertypen in seinem Kader hat, die er bevorzugt. Lille soll aus dem Mittelmaß entfliehen, wieder nach vorne schauen. Bielsas Plan sieht vor, attraktiven Offensivfußball zu spielen. Die nötigen Techniker, Dribbler und Abschlussspieler hat er, auch im Defensivzentrum wurde nachgelegt. Wenn sich ein homogenes Mannschaftsgefüge entwickelt und der notwendige Rhythmus bereits zu Saisonbeginn vorhanden ist, kann hier etwas entstehen.

Die Ziele

Marseille rüstet auf, Nizza behält einige wichtige Spieler, Lyon kann das Geld aus den Einnahmen von Tolisso und Lacazette reinvestieren und Monaco und Paris wirken ohnehin unangreifbar. Die ersten 6 Plätze scheinen also vergeben. Oder doch nicht? Im Idealfall können sowohl der OSC Lille als auch Mannschaften wie die Girondins aus Bordeaux in diesen Bereich der Tabelle vorstoßen. Nach Platz 11 im letzten Jahr heißt das Ziel erst einmal einstelliger Tabellenplatz. Doch das wird Bielsa nicht reichen. Er will die Dinge schnell vorantreiben, radikal nach vorne preschen und möglicherweise in die Phalanx der Topklubs einbrechen.

Ob ihm das gelingt, bleibt abzuwarten. Ob man bei Lille überhaupt langfristige Ziele formuliert hat, ebenfalls. Denn auch wenn die Vorzeichen stimmen und das Projekt sehr spannend zu verfolgen sein wird, kann man nicht ausschließen, dass „El Loco“ auch während dieser Trainerstation plötzlich Dinge fordert, die nicht erfüllbar sind. Der Vertrag des Argentiniers läuft bis 2019. Es wäre schön zu sehen, wenn er seinen Kontrakt diesmal erfüllt. Denn seine Ideen sind es wert, verfolgt zu werden.

Eine mögliche Bielsa-Elf

…könnte so aussehen:

Enyeama – Malcuit, Ie, Soumaoro, Palmieri – Thiago Mendes, Mavuba, Bahlouli, El Ghazi, Araujo – Ponce

Mit Dabila, Ballo-Toure, Amadou, Martin, Xeka, Sliti, Pepe oder Benzia stünden noch einige, spannende Spieler in der Hinterhand. Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass gerade nach dem Corchia-Abgang noch ein Außenverteidiger verpflichtet wird.

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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