Spotlight

Favre beim BVB – mögliche Taktiken, Transfers und Formationen

1. Juni 2018 | Spotlight | BY David Theis

Kürzlich verkündete Borussia Dortmund, was ohnehin schon längst jeder ahnte: Lucien Favre beerbt Stöger/Bosz und übernimmt die Mammutaufgabe, aus dem planlosen und ausgezehrten BVB-Kader wieder ein Extraklasse-Team zu formen. Wir wagen einen Ausblick darauf, wie Favre spielen, wen er ein- und wen er er-setzen könnte. 

Dabei gilt es natürlich festzuhalten, dass auch Favre beim BVB nur begrenzten Einfluss auf Zu- wie Abgänge von Spielern haben wird. Gleichwohl sollte der BVB mit der Kompetenz von Michael Zorc, Sebastian Kehl und Berater Matthias Sammer gut in sportlichen Fragen aufgestellt sein und seinem neuen Coach die Spieler zur Seite stellen können, die er benötigt – oder?

Wie Favre spielt 

Der als kauzig und detailverliebt geltende Schweizer ist seit Jahren ein Liebling der Fußball-Statistik-Szene, weil sein Spiel so eigenwillig ist, wie Favre (dem Vernehmen nach) selbst. Das schlägt sich auch in den zahlreichen Kennzahlen nieder, die dank moderner Technik beim Fußball erhoben werden können. Präziser gesagt: Favre ist eine Art Enigma für all jene, die das Spiel anhand komplexer Zahlenspiele zu entschlüsseln versuchen. Denn sein Fußball ist oft viel erfolgreicher, als es die Statistiken auf den ersten Blick verraten. Ein Beispiel: Betrachtet man das Pressingverhalten der diesjährigen Premier League Teams, fällt schnell auf, dass fast alle eine Art Lieblings-Zone habe, um ihrem Gegner den Ball abzujagen. Wenig überraschend dabei: Jürgen Klopps Reds z. B. sind in weit aufgerückten Pressingzonen das aggressivste Team der Liga.

Quelle: Infogol

Mindestens genau so spannend ist Folgendes: Pep Guardiolas Manchester-Team intensiviert sein Zweikampfverhalten nur in ganz bestimmten Zonen des Feldes: Nicht so weit weg vom eigenen Tor, dass bei erfolglosem Pressing gleich zu viele Teammitglieder überspielt werden (und rasante Konter drohen), doch auch nicht so nah am eigenen Tor, dass der Gegner bei erfolglosem Pressing sofort im Strafraum ist. Guardiola lässt also das andere Team erst gar nicht in die Bereiche hinein, in denen es gefährliche Schusspositionen erspielen kann. Lucien Favre dagegen tut genau das – und zwar mit voller Absicht.

Der Trick des ehemaligen Mönchengladbachers: Den Gegner zu vermeintlich vielversprechenden Schüssen einladen, dabei aber die eigenen Leute so verschieben, dass möglichst viele davon nah am Mann (um beim Schuss zu stören) oder zwischen Mann und Tor sind. Passionierte Statistiker würden sagen: „Seine Teams laden ihren Gegner zu vielen Chancen ein.“, weil die Zahlen das nahelegen. Die Wahrheit lautet jedoch eher „Seine Teams locken den Gegner nah am eigenen Tor in die Falle“. Das Problem bei dieser Vorgehensweise wird offensichtlich, wenn man sich die weniger erfolgreichen Phasen in Favres Trainerkarriere ansieht: Funktioniert das riskante Defensivspiel des Schweizers nicht wie am Schnürchen, hagelt es geradezu Gegentore. Noch dazu entscheiden viele kleine Details über Gedeih und Verderb dieses passiven, auf eine korrekte Raumbesetzung (anstatt auf robuste Zweikampfführung und Einsatz) fokussierten Spielansatzes. Wo Trainer wie Klopp oder Niko Kovac manche Unsauberkeit mit mehr Kampf und frischen Beinen zu korrigieren wissen, muss Favre immer wieder (beim Training ohne Ball) das korrekte Verschieben justieren. Das kann ein Team schnell ermüden und ist zudem schwer umzusetzen, wenn erst „der Wurm“ drin ist. Gleichwohl ist Favres Ansatz enorm spannend und durchaus erfolgreich – wenn er die richtigen Spieler dafür zu seiner Verfügung hat.

(Photo by Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Das Angriffsspiel des neuen BVB-Trainers ist ähnlich rätselhaft und komplex: Denn während Stürmer wie auch ganze Teams daran gemessen werden, wie viele gute Schusspositionen sie sich erarbeiten, verweigern sich Favres Teams (scheinbar) auch hier. Wenige Torschüsse aus (auf dem Papier) eher durchschnittlichen Positionen stehen zu Buche. Dafür bleiben seine Teams oft sehr lange im Ballbesitz (und lassen das Spielgerät eben so lange in den eigenen Defensivreihen zirkulieren). Manche Statistiker würden sagen: „Favres Teams spielen nicht zielstrebig genug aufs Tor.“ Doch „Favres Teams steigern Tempo und Risiko ihrer Aktionen nur genau dann, wenn sie es wollen.“ wäre wohl näher an der Realität. Oder konkreter auf den Torabschluss bezogen: Die Mannschaften des Schweizers achten penibel darauf, wie viele Gegner sich zwischen Ball und Tor befinden – wie auch in der eigenen Defensive. Ist die Schussbahn frei, lässt Favre abschließen. Und was noch wichtiger ist: Er arrangiert seine Spielzüge so, dass die Schussbahn frei ist, wenn seine Mannen sich in die Gefahrenzone wagen. Auch hier ist eine Menge Detailarbeit und vor allem ein präziser Torabschluss unverzichtbar – wie auch taktisch intelligente Offensiv-Spieler.

Es kommt also nicht von ungefähr, dass Favre immer wieder vorgeworfen wird, er verschmähe junge Ausnahmetalente wie Mo Dahoud in Gladbach oder zuletzt Vincent Koziello. Denn oft bringen Talente wie Pulisic, Isak, Gomez oder Sancho neben ihren überragenden Fähigkeiten auch eine gewisse taktische Unreife in das Spiel einer Mannschaft ein. Gift für ein System, das nur mit 100%iger Präzision funktioniert. Auf der anderen Seite ist „zu viel Präzision“ sicher nichts, dass man dem BVB dieser Tage nachsagen kann. Favre hat also einen hohen Berg zu erklimmen – doch seine Art, Fußball zu spielen, hat Schwarzgelb gerade bitter nötig.

Um das Spiel noch schneller zu machen, muss man erst einmal eine gewisse Spielintelligenz haben. (Lucien Favre im Gespräch mit dem Socrates Magazin)

 

Wer sollte kommen – wer gehen?

Fraglos hat Borussia Dortmund einen zu großen Kader mit zu vielen teuren, nicht aufeinander abgestimmten Spielern. Nicht alle Unterperformer wird man loswerden – nicht alle Wunschkandidaten verpflichten können. Daher liegt die Vermutung nahe, dass ein systemflexibler Trainer wohl am besten ein funktionierendes Team aus denen formen kann, die nach dem 31. August für Borussia Dortmund spielen. Nur ist Favre (trotz vermehrten Nizza-Experimenten mit Dreierkette und 4-3-3) kein solcher Trainer. Es wird also viel auf dem Transfermarkt passieren müssen.

Die Abgänge: 

Klar ist dabei, dass der BVB (unabhängig von Favre) Bedenken hinsichtlich der Entwicklung einiger seiner Spieler hat. So wird Sokratis vermutlich bald den Verein verlassen. Ebenso stehen Guerreiro, der junge Isak sowie Gonzalo Castro, André Schürrle oder Nuri Sahin auf der Kippe. In Castros Fall erscheint die Sachlage eindeutig: Zweifellos ein guter Spieler, hat der 30-jährige seinen Zenit sowohl physisch als auch spielerisch erkennbar überschritten und sollte durch einen ähnlich veranlagten, aber jüngeren und kräftigeren Spieler ersetzt werden. Dass der BVB sich dem Vernehmen nach um Werders Delaney bemüht, macht also Sinn – auch wenn die gehandelten Ablösesummen viel zu hoch und Delaney nicht grade für ein übermäßig präzises Passspiel bekannt ist. Dennoch fällt es nicht schwer, sich den 27-jährigen Dänen in einer Rolle vorzustellen, die der Christoph Kramers (zu Favres Gladbach-Zeiten) ähnelt.

Ein Spieler, der zwei Gegner durch ein Dribbling eliminiert und dann einen feinen Pass spielt, das ist der Sinn des Kollektivs. Für mich ist es notwendig, Spieler in seinen Reihen zu haben, die dribbeln können, weil sie jederzeit den Unterschied machen können. Den Unterschied nur mit Pässen zu machen, ist fast unmöglich. (- erneut Favre in seinem sehr guten Gespräch mit Socrates)

Auch für André Schürrle wird es eng werden: Er steht weder für Präzision im Passspiel, noch für stark ausgeprägte Dribblingfähigkeiten, noch für einen effizienten Torabschluss. Dazu erscheint Schüüü bei aller Fantasie nicht wie der abwartende Spielertyp, den Favre in seiner Offensive benötigt. Alexander Isak hingegen könnte Favre (siehe oben) noch deutlich zu „roh“ sein, was seine taktische Disziplin und Entscheidungsfindung anbelangt. Einzig der Umstand, dass der BVB noch immer keinen einzigen Stürmer mit Stammplatzpotenzial in seinen Reihen hat, könnte für den jungen Schweden sprechen. Es wäre ein bitterer Abschied, denn Isak ist talentiert – bei einer dauerhaft im Umbruch befindlichen Mannschaft wie dem BVB wohl aber zur falschen Zeit am richtigen Ort.

Ähnliches gilt für Raphael Guerreiro. Der portugiesische Europameister verkörpert das Prädikat „Extraklasse“ so deutlich wie kaum einer seiner Teamkameraden – und dennoch scheint er in Dortmund seinen Kredit durch zahlreiche Verletzungen und Gerüchte um Disziplinprobleme so weit verspielt zu haben, dass er Favre womöglich gar nicht mehr kennenlernt. Bedenkt man, wie der vielseitige Techniker noch unter Thomas Tuchel aufblühte, wäre das jedoch ein sehr trauriges Szenario – Favres anspruchsvoller Ballbesitz-Stil dürfte ihm sehr gut tun. Für Nuri Sahin könnten dagegen seine (Spiel-)Intelligenz und die Tatsache sprechen, dass der BVB nicht mehr viele Führungsspieler besitzt. Sahin ist jedoch zweifellos einer.

(Photo by Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images)

Ein sträflich unterdiskutiertes Thema ist (im Bezug auf Lucien Favre) das Dortmunder Sorgenkind Mario Götze. Der vielfach (und oft zu unrecht) Gescholtene birgt trotz aller Widrigkeiten, Verletzungen und Probleme ein extrem großes Potenzial – wenn man ihn richtig einsetzt. Leider verstanden das zuletzt weder Peter Stöger, noch Peter Bosz oder Thomas Tuchel. Und so schmerzhaft der Gedanke, auch unter einem vierten BVB-Trainer keinen „alten“ Götze sehen zu dürfen, auch sein mag: Dortmunds Nummer 10 ist ein Nadelspieler, wie er im Buche steht. Seine Fähigkeiten sind am besten in engen Räumen nah am gegnerischen 16-Meterraum aufgehoben und je schneller das Spiel läuft, desto besser für das reaktionsschnelle Technik-Genie. Favre jedoch baut sein Spiel gerne tief auf und könnte den WM-Siegtorschützen als zentralen Mittelfeldspieler einsetzen – ein sehr risikoreiches Modell, wie sich zuletzt zeigte. Sieht Dortmunds neuer Coach also Götze nicht als zweite (hängende) Spitze in seinem altbewährten Gladbacher 4-4-2 (oder dem in der Frühphase der Nizza-Ära praktizierten 3-2-3-2) dürfte auch Götzes schwarzgelbe Zukunft akut gefährdet sein.

Zum Schluss wäre noch Andriy Yarmolenko zu nennen. Für einen Außenspieler der Marke „Favre“ ist er eigentlich zu langsam, zu konditionsschwach und taktisch zu roh. Doch der Ukrainer wird schwer zu verkaufen sein – zu schwach war sein erstes Bundesligajahr, in dem er nach einer starken Anfangsphase letztlich fast alles schuldig blieb.

 

Die Zugänge: 

Allen Kaderproblemen zum Trotz: Dortmunds größte Baustelle befindet sich im Sturmzentrum. Hier ist die Auswahl rar, speziell da Favre-Stürmer (siehe oben) extrem treffsicher sein müssen – gute Stürmer jedoch zurzeit geradezu absurd teuer gehandelt werden… dabei hat die WM noch nicht einmal begonnen. Hier einen geeigneten Kandidaten zu finden, erscheint nahezu unmöglich, wenn man die finanziellen Möglichkeiten des BVB bedenkt. Die wahrscheinlichste Option ist daher vielleicht Michy Batshuayi – denn er stand bei Chelsea schon einmal auf dem Abstellgleis, weiß daher, was er am BVB hat und erfüllt zusätzlich das Anforderungsprofil. Sollte es mit dem aktuell verletzten Belgier nicht klappen, sollte Susi Zorc sich zumindest in eine ähnliche Richtung orientieren. Und auf ein Wunder hoffen. Es erscheint nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass Marco Reus, Maxi Philipp oder Mario Götze am Ende einen Sturmplatz ergattern, sollte der BVB mit seinen Bemühungen um einen waschechten Mittelstürmer scheitern.

Wie zuletzt vielfach berichtet, sucht Dortmunds Sportdirektor jedoch auch nach mindestens einem Außenverteidiger, einem Innenverteidiger sowie einem robusten Mittelfeldspieler (der in Delaney bereits gefunden worden sein könnte). Hier hängt wohl Vieles davon ab, ob der BVB den abwanderungswilligen Benjamin Henrichs aus Leverkusen loseisen kann (und will). Der mit der Verpflichtung von Mitchell Weiser um einen Konkurrenten reichere Außenverteidiger kann auf beiden Seiten spielen. Er bringt zudem mehr Wucht ins Spiel ein, als seine potenziellen Kollegen und könnte von Piszczek-Entdecker Favre auf die nächste Entwicklungsstufe gehievt werden. Wie der von Frankfurt verpflichtete Marius Wolf in Favres (oder Dortmunds) Konzept passen soll, muss sich indes noch zeigen (mir ist es bislang gänzlich unklar).

(Photo by Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Was die Innenverteidigung angeht, so dürfte ein sauberes Passspiel sowie eine gewisse Pressingresistenz unter dem Schweizer fast wichtiger als eine beeindruckende Physis sein (zumal der BVB hier mit Zagadou, Akanji und Toprak gut aufgestellt ist). Natürlich denkt jeder europäische Fußballfan bei der Erwähnung dieser Fähigkeiten derzeit an Matthijs de Ligt. Der umworbene Niederländer wäre perfekt für Favres Art, das Spiel aufzubauen – doch er könnte wohl selbst dann nicht nach Dortmund gelotst werden, wenn dort noch ein paar ungenutzte Stürmer-Millionen herumliegen sollten. Die gute Nachricht für Michael Zorc: Ballsichere Verteidiger liegen derzeit mehr im Trend als komplette Mittelstürmer – insofern sollte sich hier bei einem Namen wie Pavard, Lenglet, Caldara, Llorente oder Diallo (etc. pp) etwas erreichen lassen.

 

Fazit: 

Favres Art, Fußball spielen zu lassen – und zu lehren – könnte Fluch und Segen zugleich für den strauchelnden BVB sein. Aus der lose zusammengewürfelten Mannschaft wieder ein Team zu machen und ihm gleichzeitig eines der komplexesten Fußballsystem Europas mit zum Teil anstrengenden Trainingsmethoden beizubringen, wird auch Favre zwingen, sich noch einmal weiter zu entwickeln.

Ihm die passenden Spieler für seinen risikoreichen Fußball zu verschaffen, wird (vor allem die Stürmerposition betreffend) eine Mammutaufgabe für Michael Zorc und Aki Watzke. Eines aber sollte BVB-Fans fröhlich stimmen: Dass Favre keine spielerische Verbesserung zu seinen beiden unmittelbaren Vorgängern darstellen wird, ist beinahe unmöglich.

David Theis

War schon ein Fußball-Nerd bevor es Laptops gab. Schläft mit einer Ausgabe von "Der Schlüssel zum Spiel" unterm Kopfkissen. Seit 2017 bei 90PLUS.


Ähnliche Artikel