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Bayer Leverkusen im Umbruch: Jugend forscht?

29. Juni 2017 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Die vergangene Saison war für Bayer Leverkusen eine durchaus negative Erfahrung. Die Weiterentwicklung unter Roger Schmidt fehlte, einzelne Spieler konnten nicht den nächsten Schritt gehen, die Mannschaft spielt unkonstant, produzierte zu viele Fehler. Nach der Trennung von Schmidt wurde mit Tayfun Korkut ein Trainer verpflichtet, unter dem es nicht besser wurde. Im Gegenteil. Jetzt versucht man in Leverkusen die Chance auf einen Umbruch zu nutzen. Und setzt dabei verstärkt auf junge Spieler. Ein Risiko? Vielleicht. Eine Gelegenheit? Auf jeden Fall.

Rudi Völler, der aufgrund seiner Entscheidungen in den vergangenen Jahren sowohl in den Fokus der Kritik geriet, als auch nun den Druck hat, mit seiner Trainerentscheidung ins Schwarze zu treffen, hat keinen erfahrenen Trainer verpflichtet, sondern Heiko Herrlich. Herrlich gelang mit Jahn Regensburg der Aufstieg in die 2. Bundesliga. Und das mit ansprechendem Fußball. Zudem kennt Herrlich den Verein, kickte bereits für die Werkself. Er hat nun eine schwierige Aufgabe zu bewältigen.

 

Kontinuität ist wichtig

Heiko Herrlich soll die Mannschaft von Bayer kontinuierlich nach vorne entwickeln und im Idealfall mehrere Jahre bei der Werkself bleiben. Das Vertrauen in Roger Schmidt hielt auch lange und gewiss war unter dem Trainer, der einen aggressiven Spielstil in Leverkusen implementierte, nicht alles schlecht. Im Gegenteil, es gab einige gute Phasen und spektakuläre Spiele, aber die Mannschaft entwickelte sich ab einem gewissen Punkt nicht mehr nach vorne, sondern eher gegenteilig. Schmidt war in gewissen Punkten stur, wirkte beratungsresistent und war leicht reizbar, gerade als die Ergebnisse fehlten. Herrlich ist ein anderer Typ, wirkt insgesamt ruhiger und besonnener, verfolg aber ebenfalls einen klaren Plan. Für Leverkusen ist es wichtig, dass man endlich über Jahre hinweg mit einem Trainer zusammenarbeiten kann – und zwar auf möglichst hohem Niveau.

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Heiko Herrlich ist kein besonders namhafter, kein Startrainer, aber das muss nichts heißen. Seine gute Arbeit in Regensburg blieb Rudi Völler nicht verborgen, die spielerisch gute Leistung in der Relegation gegen 1860 München sprach für sich. Herrlich ist motiviert, wird den Leverkusener Entscheidungsträgern einen klaren Plan, ein langfristiges Konzept vorgelegt haben, das den Verantwortlichen gefallen hat. Nun muss es darum gehen, Herrlich die idealen Bedingungen zu schaffen, Spieler zu halten oder zu verpflichten, die zu seinem Plan gehören und vor allem die Ruhe zu bewahren, wenn es zu Beginn oder in irgendeiner späteren Phase nicht optimal läuft, sofern die übergeordneten Ziele weiterhin verfolgt werden. Der neue Trainer muss mit Kritik umgehen und sie beherzigen können, aber auch Abläufe, die unter seiner Regie nicht entsprechend nahe am Optimum waren, erkennen und gegebenenfalls auch zukünftig an den Stellschrauben drehen, seinen eigenen Plan hinterfragen und idealisieren.

 

Namhafte Abgänge

In Sachen Personalplanung ist noch nicht allzu viel bekannt. Danny da Costa wechselt nach Frankfurt, Abwehrchef Ömer Toprak schließt sich dem BVB an. Zudem geht Roberto Hilbert, dessen Vertrag ausläuft, auch Papadopoulos ist endgültig in Hamburg heimisch. Allerdings gibt es zahlreiche weitere Gerüchte, ob handfest oder nicht, die weitere Abgänge zumindest realistisch erscheinen lassen. Julian Brandt wird zwar noch mindestens ein Jahr bleiben und auch bei Bernd Leno stehen die Zeichen ganz klar auf Verbleib, sofern kein Topklub anklopft und überdies auch noch eine Topsumme auf den Tisch legt, aber andere namhafte Spieler stehen im Fokus internationaler Klubs und könnten den Verein verlassen. Gerade das Verpassen des Europapokals spielt dabei eine Rolle.

(Photo by Lars Baron/Bongarts/Getty Images)

So zum Beispiel bei Angreifer Chicharito, der dem Vernehmen nach bei Olympique Lyon auf der Liste stehen soll. Die Franzosen, denen der Abgang von Topstürmer Lacazette droht, sind flüssig und können dem Mexikaner zumindest die Europa League bieten. Auch Hakan Calhanoglu, der zuletzt ein halbes Jahr wegen einer Sperre fehlte, könnte Bayer in der kommenden Saison nicht mehr zur Verfügung stehen. Um ihn buhlt der AC Mailand, eine Ablösesumme zwischen 20 und 30 Millionen steht für den offensiven Mittelfeldspieler im Raum. Zudem gibt es Gerüchte um einen Abgang von Kevin Kampl, der seinem „Mentor“ Roger Schmidt nach China folgen könnte. Sogar bei Karim Bellarabi ist die Tür „ein Stück weiter offen“, wie der Verein zuletzt verlauten ließ. Dass alle diese Spieler gehen, ist unwahrscheinlich. Dass aber doch noch der ein oder andere Spieler die Werkself verlässt, ist realistisch. Zudem könnten die Reservisten Mehmedi, Baumgartlinger und womöglich auch Pohjanpalo bei einem entsprechenden Angebot gehen.

 

Kleinerer Kader

Dass weitere Abgänge definitiv ein Thema sind, darauf deuten auch die Aussagen von Rudi Völler hin, die er unter anderem zum Ende der Saison im aktuellen Sportstudio tätigte. Dort teilte er mit, dass man aufgrund der wegfallenden Mehrfachbelastung sicherlich mit einem kleineren Kader in die Saison gehen wird. Das hat natürlich mehrere Gründe. Einerseits kann man bei weniger Spielen und weniger Belastung das Rotationsprinzip nicht mehr derartig durchführen, andererseits ist auch die finanzielle Komponente bei einem größeren Kader zu beachten. Außerdem können so Jugendspieler, die sich im Laufe der Saison aufdrängen, besser eingebunden werden.

Dennoch ist es das Ziel, den Kader so ausgewogen wie möglich zu gestalten, also dennoch jede Position möglichst doppelt besetzt zu haben. Denn: Leverkusen besitzt den ein oder anderen verletzungsanfälligen Spieler, beispielsweise Kapitän Lars Bender. Eine zu intensive Ausdünnung des Kaders kann einen negativen Effekt haben, alles muss sehr detailliert und klug geplant werden. Völler, Boldt, Herrlich & co. müssen also exakte Vorstellungen formulieren und danach einkaufen. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob die Werkself sich große Namen angeln kann, die Homogenität ist wichtiger, jeder Mosaikstein muss zum anderen passen. Und der kleinere Kader könnte positive Auswirkungen auf Spieler wie Dragovic, Aranguiz oder Jedvaj haben, die sich beweisen wollen und nach schwankenden Leistungen oder Verletzungspech einen gewissen Druck verspüren.

 

Die jungen Spieler fördern

Eine besonderes komfortable Situation ergibt sich in Leverkusen nun für die jungen Spieler. Nach dem Toprak-Abgang könnte Jonathan Tah zum Abwehrchef avancieren, Benjamin Henrichs kann auf der Position des rechten Verteidigers den nächsten Entwicklungsschritt gehen. Beiden wird vertraut, beide Spieler haben eine große Zukunft vor sich, wenn ihre Leistung sich stabilisiert, kontinuierlich abgerufen wird. Jedvaj wurde angesprochen, wird seine Bewährungschance bekommen, auch Wendell ist mit 23 Jahren an einem Punkt angelangt, an dem er den nächsten Schritt gehen müsste. Heiko Herrlich soll diese Spieler fordern und fördern, kann sich mit seiner Mannschaft auf jedes Bundesligaspiel intensiv vorbereiten, akribisch mit den Spielern arbeiten, ohne die Europapokalbelastung.

Im Mittelfeld hofft vor allem Neuzugang Dominik Kohr auf seine Chance. Der U21-Nationalspieler ist laufstark, zweikampfstark und will sich im zweiten Anlauf bei Bayer beweisen. Für 2 Millionen Euro kommt Kohr aus Augsburg, hat nach der U21-EM aber noch einen gewissen Urlaub, ehe er zur Mannschaft stößt. Bei der angesprochenen Anfälligkeit von Lars Bender und einem etwaigen Baumgartlinger-Abgang könnte Kohr der Nutznießer sein. In der Offensive sollen vor allem Havertz und Brandt weiterhin eine große Rolle spielen. Julian Brandt muss noch konstanter werden und mit seinen 21 Jahren schrittweise mehr Verantwortung übernehmen, während Kai Havertz zunächst einmal seine Leistungen aus der vergangenen Saison bestätigen will, über einen längeren Zeitraum.

(Photo by PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images)

Havertz schien unbeeindruckt von den Problemen bei Bayer, absolvierte nebenbei seine Abiturprüfungen und rettete der Werkself mit klugen Ideen, Torvorlagen und eigenen Treffern nicht selten den ein oder anderen Punkt. Dass der 18-jährige auf die U19-EM in Georgien verzichtet verdeutlicht die Ziele, die Havertz im Verein hat. Auch Leon Bailey, im Winter aus Genk gekommen, erhofft sich unter Heiko Herrlich eine entscheidende Weiterentwicklung. Der talentierte 19-jährige spielte wenig, befindet sich noch in einem Akklimatisierungsprozess und kann unter dem neuen Trainer in einer kompletten Saisonvorbereitung überzeugen. Zudem könnte auch Kevin Volland seine Leistungen noch optimieren, sich konstanter präsentieren. Nach einer Muskelverletzung wird er zum Trainingsstart zurückerwartet.

 

Geld für Neuzugänge

(Photo by Maja Hitij/Bongarts/Getty Images)

Doch nur mit jungen Spielern und nachrückenden Akteuren aus der eigenen Jugend kann man die Ziele, die sich Leverkusen steckt, nicht erreichen. Es müssen definitiv noch externe Neuzugänge her und die Verantwortlichen werden schon einige Kandidaten unter die Lupe genommen haben. Zwar spielt Leverkusen nicht international, der Name ist in Europa dennoch bekannt, sodass man gute Chancen hat, talentierte Spieler nach Leverkusen zu locken. Die Einnahmen aus den Verkäufen von Toprak, Papadopoulos und da Costa betragen knapp 20 Millionen Euro, Calhanoglu alleine könnte diese Summe bei einem Verkauf toppen, auch Bellarabi, Kampl und Chicharito wären in diesem Bereich einzuordnen, Baumgartlinger und Mehmedi eher bei 4-8 Millionen Euro, je nach Anzahl der Interessenten.

Das heißt, dass sich bei Bayer vor allem dann etwas in Bewegung setzt, wenn ein Spieler verkauft wird. Noch ist unklar, welches System Heiko Herrlich bevorzugt und auf welchen Positionen er entsprechenden Optimierungsbedarf sieht. Aber sollte ein namhafter Abgang bevorstehen, wird man intern einen Nachfolger für diese oder eine im System neu entstehende Position diskutieren. Bei Bayer dringt in den letzten Jahren nicht viel nach außen, eine wochenlange, täglich erneuerte Transferposse um Neuzugänge ist auszuschließen. Auf der Position des rechten Verteidigers könnte ein Henrichs-Ersatz verpflichtet werden, ein Innenverteidiger ist nicht ausgeschlossen, im zentralen Mittelfeld wird aufgrund der Kohr-Verpflichtung wohl erst etwas getan, wenn 2 Spieler den Verein verlassen. Ein Stürmer kommt wohl nur, wenn Chicharito geht, ein weiterer, vielleicht flexibler Offensivspieler sollte definitiv kommen, denn vor allem bei Calhanoglu steht ein Abgang wohl tatsächlich kurz bevor. Das nötige Kleingeld sollte man sich jedenfalls erwirtschaften, Rücklagen sind außerdem vorhanden.

 

Druck? Ja. Extrem? Nein.

Diese anstehende Umstrukturierung im Kader birgt natürlich gewisse Risiken. Ob junge Spieler über eine gesamte Saison hinweg konstant spielen können, ist fraglich. Allerdings gab es diese Probleme auch in der vergangenen Saison, auch bei Spielern wie Toprak, Kampl oder Bellarabi, der auch von der ein oder anderen Blessur geplagt wurde. Nach einer schwachen letzten Saison herrscht ein gewisser Druck in Leverkusen, aber aufgrund der Einbindung der Jugend und einem tatsächlich stattfindenden Kurswechsel ist dieser Druck im Rahmen. Niemand erwartet von Leverkusen auf Anhieb einen Platz unter den ersten 3, gerade weil die Konkurrenz nicht schläft und gerade Bayern, Dortmund und wohl auch RB Leipzig, wenn sie mit der Doppelbelastung zurechtkommen, eher nicht zu erreichen sind.

Doch dahinter? Dahinter ist einiges offen. Köln, Hoffenheim, die Hertha und auch Freiburg (im Falle der Qualifikation) müssen sich mit ganz neuen, ungewohnten Gegebenheiten beschäftigen. Vereine wie Leverkusen und Schalke, beide mit neuem Trainer oder aber der VfL Wolfsburg, der unter Andries Jonker gehörig investieren wird, möglicherweise auch Borussia Mönchengladbach könnten davon profitieren. Jetzt sind es diese Vereine, die sich Woche für Woche in Ruhe auf den Gegner vorbereiten können und Köln, Freiburg, Hertha oder Hoffenheim müssen mehr rotieren, die Belastung clever verteilen. Das ist eine neue Situation für diese Klubs. Leverkusen wird mit einer jungen, hungrigen Mannschaft versuchen in die Europapokalplätze vorzustoßen. Ein Muss ist das nicht zwangsläufig. Der Wunsch der Fans ist da. Vor allem aber auch der Wunsch nach einer langfristigen, kontinuierlichen Entwicklung der Mannschaft, die nicht nach einem oder 1 1/2 Jahren stagniert. Und das wird die Aufgabe rund um den bevorstehenden Umbruch sein.

 

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Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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